Schätzungsweise 1,5 Millionen Armenier wurden in den Jahren 1915/16 im damaligen Osmanischen Reich gezielt ermordet. Den Plan zur Vernichtung der armenischen Minderheit hatte das nationalistische Jungtürken-Regime bereits lange zuvor beschlossen. Rund die Hälfte der Opfer wurden an ihren Wohnorten ermordet, der andere Teil auf Deportationszügen zu Tode geschunden. Hitler war fasziniert von dem Genozid - weil schon bald niemand mehr davon sprach. Der türkische Staat will bis heute nicht an den Völkermord erinnert werden.
Der folgende Beitrag befasst sich mit der aktuellen Debatte um die Anerkennung des Völkermords und setzt sich mit den historischen Ereignissen auseinander.
"Geschichtsterrorismus" mit Methode
Seit Jahren bemühen sich armenische Organisationen um eine politische Anerkennung der Vertreibung und Ermordung von schätzungsweise 1,5 Millionen Armeniern des damaligen Osmanischen Reiches als Völkermord gemäß der Definition der UN-Völkermordkonvention. Nicht nur Armenier, sondern auch Griechen und Aramäer ("Assyrer") wurden im Zeitraum von 1914 bis 1923 Opfer von Vertreibung, Zwangsumsiedlung und Massakern.
Bis heute freilich ist es offizielle Politik des NATO-Staates Türkei, diese Verbrechen zu leugnen, weshalb bestenfalls von einer "Tragödie" die Rede ist. Verstärkt seit den achtziger Jahren versuchen die Historiker der "Türkischen Historischen Gesellschaft", die wie eine Art staatliche Zensurbehörde die Beibehaltung des offiziellen türkischen Geschichtsbildes bewacht, einen Nebel von Zweifeln um die Darstellungen besonders armenischer Historiker zu legen. Zu Recht spricht der französische Armenien-Spezialist Yves Ternon von "Geschichtsterrorismus". Erst vor wenigen Jahren, als man annahm, dass sich dort keine kompromittierenden Dokumente mehr befanden, wurden die türkischen Archive für ausländische Historiker geöffnet.
De facto gibt es eine unmittelbare Verbindung zwischen der Weigerung der offiziellen Türkei, sich ihrer Geschichte zu stellen, und der anhaltenden gravierenden Missachtung der Menschenrechte von Kurden, religiösen Minderheiten und politisch Andersdenkenden.
Der anhaltende Widerstand gegen eine Anerkennung des Genozids in der Türkei und die brutale Verfolgung abweichender Meinungen resultiert daher, dass die Grundlagen des türkischen Staates auch achtzig Jahre nach seiner Gründung zunehmend labil sind. Die vom Staatsgründer Mustafa Kemal "Atatürk" verfochtenen Grundlagen des Staates - Laizismus und Nationalismus - werden seit Mitte der achtziger Jahre zunehmend zurückgedrängt. Der Islamismus befindet sich auf dem Vormarsch, und trotz der Kapitulation der PKK ist es bisher nicht gelungen, die Kurdenfrage beizulegen. Unter diesen Umständen fürchten Teile der türkischen Bourgeoisie ein Auseinandersbrechen des Staates, wenn Zugeständnisse an nationale Minderheiten gemacht werden. Die jugoslawische Erfahrung dürfte in dieser Hinsicht auch an ihnen nicht spurlos vorbeigegangen sein.
Nach offizieller türkischer Geschichtsschreibung war die Deportation der Armenier eine legitime Maßnahme im Krieg, den die Türkei damals im Militärbündnis mit Deutschland und Österreich-Ungarn gegen Russland und die Entente führte. Wer diese offizielle Lesart in Frage stellt, muss in der Türkei bis heute mit strafrechtlicher Verfolgung rechnen. Am 4. Oktober 2000 nahm der türkische Bürger und syrisch-orthodoxe Pfarrer Yusuf Akbulut in einem Interview mit der türkischen Tageszeitung Hürriyet Stellung zum Völkermord an den Armeniern und syrisch-orthodoxen Christen. "Alle Menschen in diesem Gebiet kennen die Wahrheit. Ich unterstütze nicht die Armenier. Ich sage, dass die Tatsache des Völkermordes wahr ist. Das kann niemand leugnen..." Hürriyet titulierte die Aussagen des Pfarrers mit den Worten "Der Verräter ist unter uns".
Nach diesem Interview begann am 21. Dezember 2000 in Diyarbakir ein Verfahren gegen Yusuf Akbulut. Er wurde nach § 312 des türkischen Strafgesetzbuches angeklagt, weil er, so der Wortlaut dieses Paragraphen, "das Volk offen zu Hass aufgehetzt hat, indem Unterscheidungen nach Region, Klasse, Rasse und Religion vorgenommen worden sind". Hierfür droht eine Höchststrafe von fünf Jahren Haft. Besagter § 312 des türkischen Strafgesetzbuches ist ein probates Mittel, um jede Auseinandersetzung mit der türkischen Zeitgeschichte und insbesondere die Aufarbeitung des Völkermordes an den Armeniern zu verhindern. Nach internationalen Protesten wurde die Anklage gegen Pfarrer Akbulut wegen Aufstachelung zum Rassenhass gemäß § 312 des türkischen Gesetzbuches inzwischen fallen gelassen. Entscheidend für die Richter war, dass der Angeklagte seine Äußerungen nicht öffentlich, sondern in einem privaten Gespräch gemacht hatte.
Wissenschaftler, Journalisten und Menschenrechtler, die sie sich zum Genozid an den Armeniern äußern, müssen in der Türkei grundsätzlich mit strafrechtlicher Verfolgung rechnen. Bekanntestes Beispiel ist der türkische Menschenrechtler Akin Birdal, ehemaliger Vorsitzender des Menschenrechtsvereins der Türkei, der sich wegen "öffentlicher Herabsetzung des Ansehens der türkischen Nation" vor Gericht verantworten soll. Sollte Birdal für schuldig befunden werden, drohen ihm bis zu sechs Jahren Haft. Auch die Anklage gegen Birdal stützt sich auf einen Bericht von Hürriyet. Ihm zufolge soll Birdal im Oktober vergangenen Jahres auf einer Veranstaltung in Bremerhaven gefordert haben, die Türkei müsse sich für das, was den Armeniern im Ersten Weltkrieg widerfahren sei, entschuldigen. Birdals Anwalt bestreitet diese angebliche Äußerung. Hürriyet habe seinen Mandaten falsch zitiert. Birdal, gegen den in der Türkei noch zahlreiche andere Strafverfahren anhängig sind, war 1998 bei einem Attentat von Rechtsradikalen lebensgefährlich verletzt worden.
Nicht minder skandalös als die beharrliche Leugnung des Völkermords an den Armeniern durch die offizielle Türkei ist die Tatsache, dass auch für die Regierungen und Parlamente in Europa und den USA der Genozid an den Armeniern - in auffälligem Gegensatz zur NS-Judenvernichtung - lange Zeit kein Thema war. Das Schweigen des Westens zum Umgang der Türkei mit ihrer Geschichte wurde dabei weitgehend von wirtschaftlichen, militärischen und geostrategischen Gesichtspunkten bestimmt, wollte man den empfindlichen NATO-Bündnispartner doch nicht unnötig verprellen. Tatsächlich unterstützte man damit nicht nur den nationalistischen Chauvinismus tonangebender türkischer Kreise in Politik und Militär, sondern konterkarierte auch die eigenen vorgeblichen Bemühungen zur Unterstützung des "Demokratisierungsprozesses" in der Türkei.
Verspätete Anerkennung
Bereits 1999 hatte der vorwiegend von in Deutschland lebenden Staatsbürgern der Türkei gegründete "Verein der Völkermordgegner" (Frankfurt am Main) eine Petition an die Große Nationalversammlung der Republik Türkei gerichtet. "Wir fordern", schrieben die Petenten ihrem Parlament, "dass im 21. Jahrhundert Schluss ist mit Leugnung, Drohungen und Verleumdungen, dass der begangene Völkermord als eine historische Tatsache bestätigt wird und den betroffenen Völkern die Hand zu Friede und Versöhnung ausgestreckt wird". Als sich das türkische Parlament im November 1999 weigerte, den Empfang der von über zehntausend türkischen Staatsbürgern unterzeichneten Petition zu empfangen, wandten sich die Petenten an das Parlament ihres Aufenthaltslandes: Pünktlich zum Genozid-Gedenktag am 24. April 2000 lagen dem Petitionsausschuss des Deutschen Bundestags in Berlin gleich zwei Petitionen vor.
Die "Arbeitsgruppe Anerkennung" sowie der "Verein der Völkermordgegner e.V." forderten in ihren Eingaben den deutschen Gesetzgeber auf, den 1915 vom damaligen jungtürkischen Regime veranlassten Völkermord zu verurteilen. Der Bundestag, so wurde weiter verlangt, solle außerdem das Parlament der Republik Türkei dazu auffordern, die bis heute bestrittene Tatsache des Genozids zuzugeben. Die Petenten erinnerten in diesem Zusammenhang an eine Resolution des Europäischen Parlaments von 1987, das die Türkei für den Fall ihres EU-Beitritts zur Anerkennung des Völkermordes verpflichtet. Ähnliche Petitionen gingen an das US-Repräsentantenhaus, die französische Nationalversammlung, das italienische Parlament, das Parlament der Schweiz und das Europaparlament in Straßburg. Während das Weiße Haus in Washington mit Rücksicht auf die wirtschaftlichen und militärischen Beziehungen zum NATO-Partner Türkei die Abstimmung über eine entsprechende Gesetzesvorlage im Repräsentantenhaus in letzter Minute verhinderte, forderte das Europaparlament bereits im November 2000 die Türkei erneut auf, den Völkermord an den Armeniern anzuerkennen. Von der Anerkennung des Genozids wollen die Europaparlamentarier auch die von der Türkei angestrebte Mitgliedschaft in der Europäischen Union abhängig machen.
Der Deutsche Bundestag vermied lange Zeit eine Abstimmung über diese heikle Frage. Erst Anfang April diesen Jahres entschied der Petitionsausschuss des Bundestags, den Antrag der "Arbeitsgruppe Anerkennung" an die Bundesregierung (konkret: das Auswärtige Amt) weiterzuleiten und im "Sinne der Völkerverständigung" zu behandeln. Die Bundestagsdebatte über die Entscheidung des Petitionsausschusses steht noch aus. Bereits in einer Kleinen Anfrage der PDS-Fraktion aus Anlass des Strafverfahrens gegen Yusuf Akbulut war die Bundesregierung danach befragt worden, ob sie willens sei, angesichts der Mitverantwortung des Deutschen Reiches am Völkermord an den Armeniern entsprechende Schritte zur Anerkennung dieses Völkermordes auch hier in der Bundesrepublik Deutschland einzuleiten. In ihrer Antwort vom 13. März 2001 vermied die Bundesregierung die Begriffe Genozid oder Völkermord, sprach stattdessen von Massakern und erklärte diese zu einer "historischen Frage", die damit "Gegenstand der Geschichtswissenschaft" und "in erster Linie" zwischen den "betroffenen Ländern Armenien und der Türkei" zu klären sei.
Eine ähnliche Position nimmt inzwischen auch der grüne Bundestagsabgeordnete Cem Özdemir ein, der nach seiner Teilnahme an einem armenischen Gottesdienst in Köln ebenfalls in die Schusslinie der Zeitungen Hürriyet, Millyet und Türkiye geriet. Ihm wurde vorgeworfen, er habe dem Prieser die Hand geküsst, was nach türkischem Verständnis eine Unterwerfung bedeutet. Während Özdemir, der diesen Vorwurf als "Lüge" zurückwies, noch im März an die Politik appellierte, "sich solidarisch mit den Wissenschaftlern zu zeigen, die auf Grund der Armenien-Debatte angegriffen werden" ( Berliner Zeitung, 3. Mai 2001) haben die Einschüchterungsversuche der nationalistischen türkischen Presse bei dem Grünen-Politiker inzwischen offenbar Wirkung gezeigt. A ngesichts der bevorstehenden Abstimmung im Bundestag erklärte Özdemir im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 5. April 2001 öffentlich, er empfehle seinen Kolleginnen und Kollegen im Bundestag nicht, der Entscheidung der französischen Nationalversammlung zu folgen und in einer Resolution den Massenmord an den Armeniern als Genozid zu bezeichnen.
In einem Interview in der Süddeutschen Zeitung vom 27. April 2001 begründete Özdemir seinen Standpunkt mit der Behauptung, dass die letzten Christen in der Türkei, die Opposition sowie europafreundliche Kreise für "unseren Mut", die offizielle Anerkennung des Genozids zu fordern, büßen müssten. Auch in Deutschland könnten sich türkische Geschichts-Dissidenten nicht mehr sicher sein, denn "Verrückte gibt es auch hier!" Ähnlich scheinen auch die Sprecher der im Bundestag vertreten Fraktionen zu denken, die einem von dem Bundestagsabgeordneten Uwe Hiksch (PDS) vorgeschlagenen Entwurf für einen interfraktionellen Antrag zur Anerkennung des Genozids inzwischen ihre Unterstützung verweigert haben.
Offiziell anerkannt haben den Völkermord an den Armeniern inzwischen dagegen die Parlamente der EU-Staaten Belgien, Frankreich, Griechenland, Italien und Schweden, weltweit sind es ein Dutzend Staaten. Die Reaktionen aus Ankara ließen nie lange auf sich warten. Bereits kurz nach der Entscheidung der Parlamentarier in Frankreich, wo eine große armenische Diaspora lebt, sprach die türkische Regierung von einem "schweren Fehler" und rief ihren Botschafter in Paris zu Konsultationen zurück. Mehrere Universitäten haben inzwischen ihre Kontakte zu Frankreich abgebrochen, gleichzeitig wurden etliche französische Unternehmen vom türkischen Staat mit dem Entzug von Aufträgen bestraft. In der Türkei wird seither alles, was französisch ist, boykottiert.
In der Schweiz sprach sich auf Initiative von Nationalrat Joseph Zisyadis das Parlament dafür aus, die Petition des "Vereins der Völkermordgegner" dem Bundesrat (Regierung) zur Kenntnisnahme zu überweisen, "verbunden mit der Bitte, im Rahmen des schweizerisch-türkischen politischen Dialogs den Völkermord an den Armeniern zur Sprache zu bringen" - eine implizite Anerkennung des Genozids. Durch seinen Vorstoß wurde Joseph Zisyadis zur Zielscheibe des Hasses nationalistischer türkischer Kreise. Der Schweizer Nationalrat und Politiker wurde mittlerweile in Hürriyet sogar mit einer Morddrohung bedacht.
Drohungen und Verleumdungen
Auch in Deutschland machen nationalistische Türken gegen den "Mythos Armeniervernichtung" mobil. Ausführende Organe des organisierten Protestes gegen "Anerkennungs"-Initiativen sind jeweils die "Koordinierungsräte" - Dachverbände türkischer Vereine, die immer dann in Aktion treten, wenn kulturelle, mediale oder wissenschaftliche Aktivitäten zur Anerkennung bekannt werden (vom Volkshochschulvortrag bis zur Kunstausstellung).
Als sich Ende März dieses Jahres in Mülheim an der Ruhr türkische und armenische Wissenschaftler erstmals trafen, um über die Hintergründe der Deportation und des Völkermords zu sprechen, belagerten türkische Nationalisten den Kongress, wobei es zu regelrechten Tumulten kam. Auf ähnliche Reaktionen war bereits eine Gedenkausstellung "Todesklage - Lebenszeichen" im vergangenen November in der Berliner Heilig Kreuz-Kirche gestoßen, die armenische Verbände zusammen mit der Gesellschaft für bedrohte Völker durchgeführt hatten. Türkische Verbände drohten den kirchlichen Organisatoren mit anonymem türkischen Volkszorn. Focus und Neues Deutschland berichteten über die türkischen Drohgebärden - und wurden prompt ebenfalls angegriffen, ebenso wie zwei Fernsehredakteure, die in Dokumentarfilmen den Völkermord erwähnt hatten.
Der Hass nationalistischer türkischer Kreise konzentriert sich insbesondere auf zwei Exponenten aus deutschen Wissenschaftlerkreisen: Dr. Tessa Hofmann von der Koordinationsgruppe Armenien der "Gesellschaft für bedrohte Völker" und Prof. Dr. Udo Steinbach, Leiter des Deutschen Orient-Instituts in Hamburg, wurden von Aydinlik und Hürriyet als "Schlüsselfiguren des deutschen Geheimdienstes für den Kaukasus und Mittleren Osten" denunziert ( Aydinlik, 31. Dezember 2000, Hürriyet 04. Januar 2001), die Armenienexpertin Tessa Hofmann, Autorin von neun Büchern zur armenischen Geschichte und Kultur, sogar als "Geheimdienstchefin" bzw. "Chefin des BND für Türkei-Kaukasus" "geoutet". Nach mehreren verunglimpfenden Berichten seit Oktober 2000 hat die Wissenschaftlerin bei Hürriyet inzwischen nicht nur eine Gegendarstellung erreicht, sondern auch per einstweiliger Verfügung gegenüber Hürriyet und Aydinlik die Verpflichtung durchgesetzt, die fraglichen Behauptungen nicht zu wiederholen.
Heftig attackiert und bedroht werden auch der türkische Journalist Oral Çaliºlar, Teilnehmer eines im Jahr 2000 in Paris unter der Schirmherrschaft des französischen Senats durchgeführten türkisch-armenischen Symposiums, und der exilierte türkische Sozialwissenschaftler Dr. Taner Akçam, Autor von drei Monographien zum Völkermord an den Armeniern. Dem Hamburger Institut für Sozialforschung, wo Akçam und Çaliºlar in der Vergangenheit angestellt waren, unterstellt die auflagenstärkste Tageszeitung der Türkei, vom BND kontrolliert zu werden.
"Weitgehend unbemerkt von der deutschen Öffentlichkeit findet in den Europa-Ausgaben türkischer Zeitungen eine Kampagne gegen in Deutschland lebende, türkischstämmigen Politiker und Forscher statt, die sich in die Diskussion um den Völkermord an den Armeniern eingeschaltet haben, den die Türkei bis heute nicht anerkennt", urteilte die Berliner Zeitung am 3. Mai 2001. (1)
Konfliktregion Kaukasus/Kaspisches Meer
Obwohl die von armenischen Interessensverbänden und unabhängigen Historikern unterstützten Forderungen nach internationaler Anerkennung dieses Genozids in der Sache vollauf berechtigt sind, muss man das Tauziehen um die "Anerkennung" einer unbestreitbaren historischen Tatsache mit 85-jähriger Verspätung kritisch betrachten. Auch bei der Auseinandersetzung um die Anerkennung oder Nichtanerkennung des Völkermords an den Armeniern stellt sich die Frage: Dient sie tatsächlich der Aufarbeitung der Vergangenheit oder aktuellen politischen Zielen - und wenn ja, welchen?
Selbst die als Richterin denkbar ungeeignete katholische Kirche in Person von Papst Johannes Paul II. mittlerweile in die Debatte eingemischt, indem der Papst den 1915 im Verlauf des Genozids ermordeten Armenischen Erzbischof von Mardin, Ignatius Choukrallah Maloyan, offiziell zum Märtyrer des Glaubens erklärte - und damit den Grundstein für dessen "Seligsprechung" legte.
Den aktuellen politischen Hintergrund der gegenwärtigen Debatte bildet zweifellos der Kampf um die ölreiche und strategisch wichtige Kaukasus-Region und den Kaspischen Raum.
Der ungelöste Konflikt um die auf aserbaidschanischem Territorium liegende armenische Exklave Nagorny-Karabach hat die USA bisher daran gehindert, ähnlich enge Beziehungen zu Aserbaidschan einzugehen, wie sie beispielsweise zu Georgien bestehen. Allerdings gibt es starke Hinweise auf eine Intensivierung der amerikanisch-aserbaidschanischen Beziehungen, auch auf militärischem Gebiet. So hat sich Aserbeidschans Regierung anlässlich des Besuchs des stellvertretenden Oberkommandierenden der US-Streitkräfte in Europa, General Carlton Fulford, erneut für die Einrichtung von NATO-Militärstützpunkten auf seinem Territorium stark gemacht, eine Idee, die der US-Befehlshaber interessant genug gefunden haben soll, um darüber nachzudenken ( Junge Welt, 30. März 2001).
Aufgrund der beharrlichen Lobbyarbeit der armenischen Interessenverbände in den USA, wo sich ein Großteil der armenischen Diaspora befindet, kann die US-Regierung Armenien aber nicht einfach fallen lassen. Andererseits führt aber auch an Baku, was die Ölförderung und den Öltransport betrifft, kein Weg vorbei. Hinzu kommt, dass Russland traditionell mit Armenien verbündet ist und dank dem Karabach-Konflikt einen Fuß in der Region behält. Das NATO-Mitglied Türkei wiederum unterstützt Aserbaidschan, was die Lage zusätzlich kompliziert.
Eine Beilegung des Konflikts zwischen Aserbaidschan und Armenien würde unter diesen Umständen aus westlicher Sicht gleich mehrere Probleme lösen: Georgien, Aserbaidschan und Armenien könnten unter der schützenden Hand der NATO zu einem Bündnis vereint werden, Russland würde weiter aus der Region verdrängt und die Türkei könnte ihren Aufstieg zur Regionalmacht fortsetzen, dem das verfeindete Armenien bisher im Wege steht.
Seit dem Regierungswechsel in den USA ist wieder Bewegung in diese Frage gekommen. Die Bush-Administration, in der die Öl-Lobby bekanntlich großen Einfluss ausübt, ist an einer schnellen Beilegung des Karabach-Konflikts interessiert. Wie Der Spiegel am 2. April 2001 unter der Überschrift "Frontalangriff der USA" berichtete, lud US-Außenminister Powell Anfang April die Präsidenten Aserbaidschans und Armeniens, Alijew und Kotscharjan, zu einem viertägigen "diplomatischen Angelausflug" nach Florida ein, um eine Lösung des Konflikts auszuloten. Russland reagierte entsprechend gereizt: "Moskau interpretiert das Treffen in Key West jedoch als schweren Schlag' der neuen US-Führung gegen die OSZE, die bisher die Gespräche zwischen den verfeindeten Staaten moderierte - und als Versuch der USA, sich den Kaukasus endgültig als amerikanische Einflusssphäre anzueignen," schreibt Der Spiegel.
Auch die New York Times berichtete am 4. April über das Treffen in Florida und bezeichnete Powells direkte Beteiligung an den Gesprächen als "Zeichen dafür, dass die Vereinigten Staaten den Konflikt gerne gelöst sähen, um die Stabilität in der ölreichen Kaukasusregion zu fördern". Zur Türkei heißt es in dem Artikel: "Eine Lösung des Konflikts wäre auch ein erster Schritt, der es der Türkei, einem wichtigen amerikanischen Verbündeten und Unterstützer Aserbaidschans, erlauben würden, normale Beziehungen zu Armenien aufzunehmen." Die Anerkennung des Völkermords an den Armeniern könnte sich gut dazu eignen, um der amerikanischen und europäischen Öffentlichkeit einen solchen Deal, der den Kaukasus in eine amerikanische Einflusssphäre verwandeln würde, schmackhaft zu machen.
Allerdings hat es US-Präsident Bush in diesem Punkt bisher vermieden, sich eindeutig festzulegen. Obwohl Bush noch in seiner Amtszeit als Gouverneur von Texas den Genozid an den Armeniern beim Namen genannt hat, verliefen die Versuche der armenische Lobby bislang erfolglos, ihn nach seiner Wahl zum US-Präsidenten zu einer Wiederholung bzw. Klarstellung dieser Äußerung zu bewegen. Rücksichtnahmen auf die türkische Führung und insbesondere auf die sich als Wahrer des türkischen Einheitsstaates verstehende Generalität dürften der Grund dafür sein.
Auch Israel, das einen Militärpakt mit der Türkei unterhält, hat Überlegungen, den armenischen Genozid in seine Schulbücher aufzunehmen, nach massiven türkischen Protesten wieder fallen lassen. Der israelische Außenministers Shimon Peres bezeichnete gegenüber der Turkish Daily News vom 10. April 2001 die Forderungen nach einer Anerkennung des Genozids als "bedeutungslos" und wies alle Versuche zurück, einen Vergleich zwischen dem Holocaust und den "armenischen Behauptungen" herzustellen. "Es ist nichts geschehen, das sich mit dem Holocaust vergleichen ließe. Die Armenier haben eine Tragödie, aber keinen Holocaust erlebt."
Auch Deutschland bemüht sich beharrlich, seinen Einfluss in der Region geltend zu machen. Außenminister Joschka Fischer bereiste sie letzte Woche, nachdem Entwicklungshilfeministerin Wieczorek-Zeul zuvor die Region besucht und 100 Millionen Mark zur "regionalen Stabilität" in den südkaukasischen Ländern Georgien, Aserbeidschan und Georgien locker gemacht hatte. (2) Die Auch die CDU/CSU-Fraktion drängt in einem Antrag (14/5961) im Bundestag auf ein stärkeres außen- und entwicklungspolitisches Engagement der Bundesregierung gegenüber diesen Ländern. "Es gelte jetzt, die strategische Bedeutung dieser Region anzuerkennen und Friedensmissionen unter dem Dach von OSZE und Vereinten Nationen in Abstimmung mit den europäischen Partnern voll zu unterstützen." (3)
Vor dem Hintergrund der Konflikte um das von Georgien abtrünnige Abchasien und die in Aserbeidschan gelegene armenische Enklave Nagorny-Karabach verlangt die Fraktion "von der Bundesregierung unter anderem, den Dialog mit den wichtigsten in der Region engagierten Staaten zu suchen. Neben den USA seien vor allem Gespräche mit Moskau, Ankara und Teheran zu führen. Gegenüber der russischen Regierung sei die volle Souveränität der drei Kaukasus-Republiken herauszustellen. Im Dialog mit der Türkei müsse auf das Ende der Blockade Armeniens hingewirkt werden". Die Politik Deutschlands, so die Fraktion selbstbewusst, müsse sich "bei allem Respekt vor legitimen Interessen anderer‘ Tendenzen zu exklusiver Wahrnehmung von Interessen und externer Bevormundung in der Kaukasusregion entgegenstellen".
Tatsächlich könnte die türkische Generalität in dieser Situation außenpolitisch von einer Anerkennung des Genozids durch die Türkei nur profitieren. Es würde auch ihren gegenwärtigen Bemühungen entsprechen, die alten Politiker und Parteien abzuservieren und im Namen von "Demokratisierung" und "Kampf gegen Korruption" ein Regime zu installieren, das direkt die Diktate des Internationalen Währungsfonds durchführt. Nachdem die türkische Regierung auf Druck des IWF und der Weltbank den früheren Weltbank-Technokraten Kemal Dervis zum Wirtschaftsminister ernannt hat, gerät sie immer stärker unter den Druck der internationalen Finanzorganisationen. Angesichts der innenpolitischen Brisanz des Armenien-Themas, das den nationalen Mythos der Türkei zentral berührt, ist es allerdings äußerst unwahrscheinlich, dass sie einen Schritt wie die Anerkennung des Genozids wagen wird.
Die nationale Frage im Osmanischen Reich und der Völkermord an den Armeniern
Als ein Militärputsch im Juli 1908 das autokratische Regime des Sultans Abdülhamits II. beendete, schien auch für die armenische Minderheit im Osmanischen Reich eine neue Ära anzubrechen. Nicht nur in Konstantinopel kam es zu spontanen Verbrüderungsszenen zwischen Türken und Armeniern.
Unter Überfällen kurdischer Nomaden hatten die Armenier bereits vor Abdülhamit zu leiden. Diesem jedoch blieb es vorbehalten, die antichristlichen Ressentiments der moslemischen Bevölkerung systematisch gegen die Armenier einzusetzen. Als "roter" Sultan - rot vom vergossenen Blut Tausender Armenier - ging Abdülhamit in die Geschichtsschreibung ein.
Noch vor dem Römischen Reich erhob Armenien im Jahr 301 das Christentum zur Staatsreligion. Wie auch andere altorientalische Kirchen, insbesondere die für Armenien maßgebliche Kirche von Antiochia ("syrisch-orthodox"), lehnten die Armenier die Konzilsbeschlüsse von Chalcedon 451 ab und befanden sich fortan als "Schismatiker" im Konflikt mit der byzantinischen Reichskirche. Seit dem 17. Jahrhundert standen neun Zehntel des armenischen Siedlungsgebiets ("Armenisches Hochland") unter osmanischer Herrschaft. Wie die übrigen Christen und auch die Juden waren die armenischen Christen rechtlich und steuerlich benachteiligt; als angeblich nicht vertrauenswürdig wurden Nicht-Muslime vom Staat und Militär ausgeschlossen - mussten aber für diesen Ausschluß auch noch eine Sondersteuer zahlen. Als "Glaubensnation" (millet) nach der Definition des islamischen Gewohnheitsrechts (schariat) besaßen sie zwar seit 1864 Autonomie in religiösen und schulischen Angelegenheiten, doch nur insoweit, als nicht Belange des osmanischen Staates oder muslimischer Bürger berührt wurden.
Die angebliche Toleranz der Osmanen bestand darin, den unterworfenen Nichtmuslimen die innere Verwaltung aufzubürden. Die eroberten Völker sollten Landwirtschaft, Handel und Industrie entwickeln, deren Früchte die Eroberer ernteten. So stellten die Armenier - in ihrer Mehrzahl Bauern - in den Städten nahezu alle Handwerker und beherrschten neben Griechen, Juden und Levantinern Handel und Geldwesen, denn diese Bereiche waren für gläubige Muslime tabu.
Den Türken an Bildung im Durchschnitt weit überlegen, blieben die Armenier im Osmanischen Reich dennoch inferiore Rajahs ("Vieh"), d. h. eroberte Ungläubige und damit Bürger zweiter Klasse, denen der Besitz von Waffen und jeder Anschein von Luxus verboten war. Sie litten nicht nur unter Überfällen und Raubzügen nomadisierender Kurden, deren Lebensraum sich mit den armenischen Siedlungsgebieten im Osten des Osmanischen Reichs überschnitt. Auch in Prozessen hatten sie kaum eine Chance, galt das Zeugnis eines Ungläubigen doch prinzipiell weniger als dasjenige eines Muslim. Zusätzlich zu den üblichen Steuern hatten die Männer eine Kopfsteuer zu entrichten, zu der später noch die Steuer für die Freistellung vom Militärdienst kam, von dem Armenier ausgeschlossen waren. Nach Abzug all dieser Steuern blieb dem armenischen Bauern gerade noch ein Drittel seiner Ernte zum eigenen Überleben.
Die Hamidije - Sturmabteilungen des Sultans
In dieser Situation musste das Eindringen bürgerlich-fortschrittlicher Ideen, vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, dazu führen, dass die Forderung nach rechtlicher Gleichstellung und nationaler Selbstbestimmung unter armenischen Intellektuellen laut wurde. Obwohl nur eine Minderheit die Vereinigung Türkisch-Armeniens mit dem russischen Teil Armeniens forderte, wurden die Armenier für den unter Verfolgungswahn leidenden Abdülhamit mehr und mehr zum roten Tuch. Die Niederlage des Osmanischen Reiches im russisch-türkischen Krieg 1877/78 brachte das Fass zum Überlaufen. Der Sultan, der die Überwachung und Bespitzelung seiner Untertanen zur Perfektion trieb, witterte hinter jeder auch noch so schwachen Regung armenischen Freiheitsstrebens Hochverrat, in jedem Armenier sah Abdülhamit einen russischen Agenten. Seine Angst galt dem möglichen Zusammenschluss der russischen und türkischen Armenier in einem eigenen armenischen Staat.
Geschickt nutzte der Sultan die traditionellen Gegensätze zwischen nomadisierenden Kurden und ackerbauenden Armeniern. Mit den von ihm geschaffenen Hamidije-Regimentern, einer nach dem Vorbild russischer Kosakeneinheiten aufgebauten kurdischen Kavallerie, schuf sich Abdülhamit 1891 eine Streitmacht, die vordergründig die türkisch-russische Grenze sichern sollte, deren eigentliche Aufgabe jedoch in der brutalen Unterdrückung und Verfolgung der Armenier bestand. Voll zum Einsatz kamen die Hamidije-Einheiten bei den Armeniermassakern von 1895 und 1896, die von der "Hohen Pforte" zentral organisiert wurden und bei denen über 100.000 Armenier den Tod fanden.
Bereits Jahrzehnte vor den Massakern hatte sich die Situation der armenischen Bevölkerung im Osmanischen Reich massiv verschlechtert. Eine im Dezember 1876 zur Beschwichtigung der "europäischen Mächte" mit großem Pomp verkündete liberale Verfassung, die allen Bürgern die Grundrechte und freie Religionsausübung garantierte, setzte der Sultan schon 14 Monate später wieder außer Kraft.
Im Berliner Vertrag, dem Abschlussprotokoll des Berliner Kongresses (13. Juni bis 13. Juli 1878), der den Ausgangspunkt für die weitere Zerstückelung der Türkei und für die Entwicklung des Kampfes um das osmanische Erbe bildete, forderten die europäischen Mächte u. a. im Artikel 61 Reformen in Armenien durchzuführen: "Die hohe Pforte verpflichtet sich, ohne weiteren Zeitverlust die Verbesserungen und Reformen ins Leben zu rufen, welche die örtlichen Bedürfnisse in den von Armeniern bewohnten Provinzen erfordern, und für die Sicherheit derselben gegen die Tscherkessen und Kurden einzustehen. Sie wird in bestimmten Zeiträumen von den zu diesen Zwecke getroffenen Maßregeln der Mächte, welche die Ausführung derselben überwachen werden, Kenntnis geben."
Doch "obwohl sich Europa das Recht vorbehielt, die Einführung dieser Reformen zu überwachen, verschlechterte sich die Lage... mit jedem Jahr mehr und mehr und führte sogar mehrmals zu blutigen Aufständen, da die Durchsetzung der Reformen der Türkei selbst überlassen blieb", bemerkte Trotzki in einem zeitgenössischen Artikel. (4)
Die Intrigen der Großmächte haben entscheidend dazu beigetragen, jene Pogrome, Massaker, Kriege und Vertreibungen zu provozieren, denen im Verlauf von vier Jahrzehnten Millionen Angehörige nationaler Minderheiten - Armenier, Griechen, Serben, Albaner usw. - aber auch Türken zum Opfer fielen. (5) So führt eine direkte Linie von der Konferenz von Konstantinopel (Dez. 1876-Jan. 1877) und dem Londoner Protokoll (31. März 1877) über den russisch-türkischen Friedensvertrag von St. Stefano (3. März 1878), der die vollständige Kapitulation der Türkei bedeutete und dem Berliner Vertrag unmittelbar vorausging, zum Armeniermassaker von 1894-1896. (6) Alle von den Großmächten diktierten Verträge - von St. Stefano und Berlin (1878) bis hin zu Sèvres (1920) und Lausanne (1923) - hatten die imperialistische Unterjochung der Türkei zum Ziel und standen daher einer demokratischen Entwicklung diametral entgegen.
Die jungtürkische Revolution
Die Bewegung der sogenannten Jungtürken entwickelte sich in Opposition gegen die imperialistische Zerstückelung der Türkei und die Unfähigkeit des feudal-klerikalen Sultan-Regimes, dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten.
Als die jungtürkischen Revolutionäre 1908 Abdülhamit absetzten und eine Republik nach westlichem Vorbild anstrebten, schien sich auch für die christlichen Nationen des Osmanischen Reiches das Blatt zu wenden, denn unter anderem setzten die neuen Machthaber die Verfassung von 1876 wieder in Kraft. Doch die Opposition gegen den Despoten Abdülhamit und konstitutionalistische Motive erwiesen sich schon bald als unzureichend, um die ideologisch heterogenen Kräfte der Revolution zusammenzuhalten. Innerhalb der konstitutionalistischen revolutionären Bewegung dominierte, nach einem Staatsstreich im Juli 1908, die Gruppe die sogenannten Ittihadisten (die gewöhnlich als Jungtürken bezeichnet werden). Ihre seit 1870 bestehende Bewegung - seit 1889 als illegale Partei "Komitee für Einheit und Fortschritt" (Ittihad ve Terakki) - stützte sich vor allem auf Offiziere, Intellektuelle und Beamte.
Die führende Rolle der Offiziere und Beamten in der jungtürkischen Revolution erklärt sich aus den Eigenheiten des türkischen Staates, der seiner Tradition nach im wesentlichen ein Militärstaat war. Bei all seinem Widerstand gegen den historischen Fortschritt war der Sultanspalast dazu gezwungen, "seine Armee wenigstens bis zu einem gewissen Grade zu europäisieren und Kräften der Intelligenz Zugang zur Armee zu ermöglichen", bemerkt Trotzki in einem zeitgenössischen Artikel. "Diese Kräfte ließen nicht auf sich warten. Die gering entwickelte türkische Industrie und die noch junge städtische Kultur eröffneten der türkischen Intelligenz fast keine andere Laufbahn als die eines Offiziers oder eines Beamten. Somit organisierte der Staat in seinem Schoß die kämpferische Vorhut der sich herausbildenden bürgerlichen Nation: eine denkende, kritisierende und unzufriedene Intelligenz". (7)
Als bürgerliche Partei setzten sich die Ittihadisten für die konstitutionelle Monarchie und für bürgerliche Reformen ein. Außenpolitisch erstrebten sie ein großtürkisches Reich unter Eingemeindung sämtlicher Turkvölker bis Nordchina. Innenpolitisch steuerten sie die Kontrolle der bis dahin von den Islamisten vernachlässigten und verachteten Kapitalwirtschaft an.
Die jungtürkische Revolution hatte in dieser Hinsicht durchaus einen fortschrittlichen, bürgerlich-nationalen Charakter. Lenin wie Trotzki bezeichneten die Machtübernahme der Jungtürken im Jahr 1908 deshalb als "bürgerliche Revolution". (8) In seinem bereits zitierten Artikel analysierte Trotzki: "Ihren Aufgaben nach (wirtschaftliche Selbständigkeit, national-staatliche Einheit und politische Freiheit) ist die türkische Revolution die Selbstbestimmung der bürgerlichen Nation und knüpft in diesem Sinne an die Traditionen von 1789-1848 an. Das ausführende Organ der Nation jedoch war die Armee, die vom Offizierskorps geführt wurde, - und das verlieh den Ereignissen sofort den planmäßigen Charakter von militärischen Manövern. Es wäre allerdings blanker Unsinn... in den türkischen Ereignissen vom Juli des vergangenen Jahres [1908] ein einfaches Pronuntiamento zu sehen... Die Stärke des türkischen Offizierskorps und das Geheimnis seines Erfolgs bestehen nicht in einem genialen Organisationsplan', nicht in einer diabolisch schlauen Konspiration, sondern in einer aktiven Sympathie seitens der fortschrittlichen Klassen: der Kaufleute, der Handwerker, der Arbeiter, eines Teiles der Beamten und der Geistlichen sowie letztlich des Dorfes in Gestalt der Bauernarmee." (9)
Trotzki machte sich allerdings keinerlei Illusionen über die Fähigkeit der Jungtürken, die demokratischen Aufgaben der bürgerlichen Revolution zu lösen. Er sah im selben, 1909 entstandenen Artikel auch schon ihre kommende Rechtsentwicklung voraus: "Aber all diese Klassen bringen außer ihrer Sympathie auch ihre Interessen, Forderungen und Hoffnungen mit. Alle lange unterdrückten sozialen Leidenschaften treten nunmehr offen zutage, da das Parlament für sie ein Zentrum geschaffen hat. Bitter enttäuscht werden diejenigen sein, die denken, die türkische Revolution sei schon zu Ende. Und zu den Enttäuschten wird nicht nur Abdul-Hamid gehören, sondern offenbar auch die Partei der Jungtürken." (10)
Für Trotzki stand außer Frage, dass die Aufgaben der demokratischen Revolution nur gelöst werden konnten, wenn der Unterwerfung der Türkei durch die imperialistischen Mächte Großbritannien, Frankreich, Österreich-Ungarn und Russland, die untereinander bei der Lösung der "orientalischen Frage" rivalisierten, Einhalt geboten wird. Zur Zerstückelung des Osmanischen Reiches durch die imperialistischen Mächte bemerkt Trotzki: "Bei der Aufteilung der Türkei war kein Ende abzusehen. Dabei ist ein ausgedehntes und in wirtschaftlicher Hinsicht einheitliches Territorium eine unabdingbare Voraussetzung für die Entwicklung der Industrie. Das bezieht sich nicht nur auf die Türkei, sondern auch auf den gesamten Balkan. Nicht die nationale Vielfalt, sondern die Zersplitterung in Einzelstaaten hängt über ihm wie ein Fluch. Die Zollgrenzen zerschneiden ihn künstlich in Teile. Die Ränke der kapitalistischen Mächte verflechten sich mit den blutigen Intrigen der Balkandynastien. Werden diese Bedingungen beibehalten, bleibt der Balkan auch weiterhin eine Büchse der Pandora." (11)
Trotzki sah nur eine Möglichkeit, wie der Erhalt "eines in wirtschaftlicher Hinsicht einheitlichen Territoriums" und die Verteidigung der Türkei gegen die räuberischen Bestrebungen der Großmächte mit dem Selbstbestimmungsrecht der im Osmanischen Reich unterdrückten Nationalitäten vereinbart werden konnte: "Nur ein einheitlicher Staat aller Balkannationalitäten auf demokratisch-föderativer Grundlage - nach dem Muster der Schweiz oder der Nordamerikanischen Republik - kann eine innere Beruhigung auf dem Balkan bringen und die Voraussetzungen für eine machtvolle Entwicklung der Produktivkräfte schaffen." (12) Das galt nicht nur für den Balkan, sondern in übertragenem Sinne auch für Anatolien, die arabische Welt und den - zwischen der Türkei und Russland umkämpften - Kaukasus.
Die Jungtürken, die sich aus den oben beschriebenen Gründen hauptsächlich aus dem Offizierskorps rekrutierten und enge Verbindungen zu Großgrundbesitz und Bourgeoisie hatten, waren zu einer solchen Lösung organisch unfähig. Ihr Klassenstandpunkt brachte sie unweigerlich in Gegensatz zu den Bedürfnissen der Massen - der Bauern, Arbeiter und unterdrückten Nationalitäten - und trieb sie zurück in die Arme der Großmächte. Das Jungtürken-Regime - sowohl in seiner ursprünglichen Form unter dem Triumvirat Enver, Talaat und Cemal als auch in seiner späteren Variante unter Kemal "Atatürk" - unterschied sich in dieser Hinsicht nicht grundsätzlich von anderen bürgerlich-nationalistischen Regimen im 20. Jahrhundert, deren Unfähigkeit, die Aufgaben der demokratischen Revolution zu lösen, Trotzki in seiner Theorie der permanenten Revolution verallgemeinert hat.
Als Verfechter eines türkischen Einheitsstaats gerieten die Jungtürken unweigerlich in Gegensatz zu den Autonomiebestrebungen der nationalen Minderheiten. Hier liegt der Grund, weshalb erst Enver und nach anfänglichem Zögern auch Kemal zu den Methoden des Sultans zurückgriffen und die Nationalitätenfrage durch Massaker und Völkermord "lösten". Auch dies hat Trotzki 1909 deutlich vorausgesehen: "Die Jungtürken aber lehnen diesen Weg [eines einheitlichen Staats auf demokratisch-föderativer Grundlage] entschieden ab. Als Vertreter der herrschenden Nationalität, die die Armee hinter sich haben, wollen sie nationalistische Zentralisten sein und bleiben. Ihr rechter Flügel lehnt sogar die Selbstverwaltung in den Provinzen konsequent ab. Der Kampf gegen die mächtigen zentrifugalen Tendenzen macht die Jungtürken zu Verfechtern einer starken Zentralgewalt‘ und drängt sie zu einem Abkommen mit dem Sultan quand même. Das bedeutet, dass sich der rechte Flügel der Jungtürken, sobald im Rahmen des Parlamentarismus das Knäuel der nationalen Gegensätze aufgerollt wird, offen auf die Seite der Konterrevolution stellt." (13)
Vorspiel zum Völkermord
Weil die liberal-reformerischen gegenüber den nationalistischen Zielen bei der Machtübernahme der Jungtürken 1908 zu überwiegen schienen, erhielten viele jungtürkische Führer, als sie nach einem islamisch-fundamentalistischen Gegen-Aufstand im April 1909 fliehen mussten, Unterschlupf bei armenischen Freunden. Die Jungtürken dankten es den Armeniern auf ihre Weise. An die Macht zurückgekehrt, entwickelte sich die Ittihad-Partei mehr und mehr nach rechts. Für Gleichheit im Sinne der Französischen Revolution, für die sich die Jungtürken in Worten begeisterten, war in der pantürkischen Ideologie kein Platz mehr. Autonomie, wie sie die Armenier vor dem Putsch von 1908 gefordert hatten, war für die Jungtürken gleichbedeutend mit Separation - und Separation bedeutete für sie Verrat.
Die ethnische Homogenisierung erschien ihnen als sicherstes Mittel zur Wahrung des osmanischen Besitzstandes: "Das Osmanische Reich muss ausschließlich türkisch sein, die Existenz fremder Elemente bietet einen Vorwand für europäische Interventionen. Diese Elemente müssen mit Waffengewalt türkisiert werden", hatte der jungtürkische Führer Mehmed Nazim bereits im April 1909 kurz nach einem Massaker in Adana, wo unter Beteiligung von Regierungstruppen innerhalb von zwei Tagen 30.000 Armenier getötet worden waren. Im November 1911 wurde Nazims Erklärung Teil des offiziellen Programms des "Komitee für Einheit und Fortschritt". Durch die Gebietsverluste im Balkankrieg 1912/1913 (Verlust Bulgariens, Bosniens, der Herzegowina und Kretas) erhielt dieser pantürkische Nationalismus weitere Nahrung. Nach einem weiteren Putsch 1913 im Besitz der alleinigen Regierungsgewalt, verbot das "Komitee für Einheit und Fortschritt" de facto alle anderen politischen Parteien.
Das brutale Vorgehen der Jungtürken gegen Armenier, Griechen, Kurden und andere nationale Minderheiten, aber auch gegen türkische Bauern, Arbeiter und oppositionelle Strömungen entsprang ihrem Charakter als Vertreter der nationalen Bourgeoisie in einem zurückgebliebenen Land. Sie glichen in dieser Hinsicht der Kuomintang Tschiang Kaischeks und ähnlichen Bewegungen in anderen Ländern. Solche Bewegungen reagieren in der Regel mit äußerster Brutalität auf Druck von unten und verbünden sich dabei nicht selten mit der imperialistischen Reaktion.
Dieselbe bürgerliche Beschränktheit wie die Jungtürken kennzeichnete allerdings auch die Führer der nationalen Minderheiten des Osmanischen Reichs. Keine dieser Bewegungen, einschließlich der armenischen, war in der Lage, die Bauernbevölkerung auf der Grundlage eines demokratischen Programms zu mobilisieren. Sie appellierten deshalb zunehmend hemmungslos an sprachliche und/oder religiöse Unterschiede. Die Armenier, Mazedonier, Bulgaren, Serben etc. forderten die Intervention der Großmächte (zum Teil war sogar von "Kreuzzügen!" die Rede) zu ihren Gunsten. Wie sie auf dem Balkan unter der moslemischen Bevölkerung wüteten, hat Trotzki in seinen Artikeln zu den Balkankriegen beschrieben.
Die Vorwände zum Völkermord
Am 2. August 1914 schlossen der deutsche Botschafter Wangenheim und Großwesir Said Halim in Gegenwart von Kriegsminister Enver und Innenminister Talaat einen Beistandspakt. Mit Envers Einverständnis provozierten die Deutschen Ende Oktober durch Beschuss von russischen Kriegsschiffen und Kriegsanlagen den Kriegseintritt der Türkei, deren Truppen zu diesem Zeitpunkt bereits mobilisiert waren. Ihre Waffenbrüderschaft ließ sich die türkische Regierung vom Deutschen Reich mit der stolzen Summe von 56.255.800 Mark (fast ausschließlich in Gold) teuer bezahlen.
Als die armenischen Führer auf dem 8. Parteitag der sozialrevolutionären Daschnaken-Partei Anfang August 1914 das jungtürkische Ansinnen zurückwiesen, unter ihren Landsleuten im Transkaukasus einen Aufstand gegen die Russen anzuzetteln, sprachen die Jungtürken von "Verrat".
Die 1890 gegründete Partei "Daschnakzutjun" ("Föderation") war ursprünglich eine Partei der armenischen national-revolutionären Bourgeoisie, die den Kampf für die nationale Befreiung und für die armenische Nationalstaatlichkeit auf ihre Fahnen geschrieben hatte. Sie stellte sich den bewaffneten Aufstand der Armenier zur Aufgabe und forderte u. a., landlosen Bauern Grund und Boden zuzuteilen. Auf ihrem 2. Parteitag 1898 wurde der Terror als eines der wichtigsten Kampfmittel anerkannt. In der Folge schlossen sich Teile der Daschnaken, die Jungdaschnaken, im wesentlichen dem Programm der russischen Sozialrevolutionäre an. Einzelne Arbeiter traten zur RSDAP oder zur relativ einflussreichen armenischen Sozialdemokratischen Partei über oder reihten sich in die Hintschak ein. Seit ihrem 3. Parteitag (1907) forderte die Daschnakzutjun u.a. die Sozialisierung des Bodens, die Bildung einer demokratischen Unionsrepublik im Kaukasus mit einer föderativen Bindung an Russland, das allgemeine Wahlrecht und den 8-Stunden-Tag.
Ein in vielen Punkten ähnliches Programm vertrat die "Armenische Sozialdemokratische Partei Hintschak" ("Glocke"), die 1886 in Genf gegründet wurde. Sie forderte die Bildung eines autonomen Armeniens durch einen revolutionären Aufstand, danach die Zuteilung von Grund und Boden an landlose Bauern u.a. Bei allen armenischen Aufständen spielten die Hintschak eine wichtige Rolle.
Unter dem Einfluss der revolutionären Ereignisse in der Türkei, des Weltkriegs und der russischen Revolution kam es unter den politischen Strömungen der Daschnaken und Hintschaken zu einer raschen politischen Differenzierung. Sowohl Daschnakzutjun wie Hintschak unterstützten anfänglich die jungtürkische Revolution, gerieten dann jedoch in offene Opposition zu den Jungtürken. So riefen die Daschnaken während der Balkankriege die türkischen Soldaten zur Fahnenflucht auf, im Ersten Weltkrieg organisierten sie Partisanengruppen zum Kampf gegen die Türken. Unter dem Kommando der Hintschak wiederum organisierte der Führer der armenischen Aufständischen, Andranik, eine "Abteilung der Rache" und führte im Hinterland der türkischen Armee einen Partisanenkrieg. Während des Ersten Weltkriegs kämpften Abteilungen der Hintschak gegen die Türken im Kaukasus. Nach der Oktoberrevolution spielte die Daschnakzutjun eine offen konterrevolutionäre Rolle. Im ehemals russischen Armenien gelangten sie vorübergehend an die Macht, die sie allerdings im Herbst 1920 infolge eines Arbeiter- und Bauernaufstands wieder verloren. Eine größere politische Rolle spielte die Daschnazutjun erst wieder nach der Auflösung der Sowjetunion. Anders als die Daschnaken erkannten die Hintschaken die Sowjetmacht nach der russischen Revolution zwar verbal an, führten gleichzeitig jedoch in ihrer Emigrantenpresse eine Kampagne gegen Sowjetarmenien.
Die Furcht, dass Armenien zum Einfallstor für Russland nach Anatolien werden könnte, entsprach also keineswegs nur türkischer Phantasie. Schon der Vertrag von St. Stefano hatte ausgerechnet das zaristische Russland mit der Überwachung demokratischer Reformen in Armenien und der Bürgschaft für die Sicherheit der Armenier beauftragt, was wiederum die Briten beunruhigte, die nun ihrerseits versuchten, Armenien zu einer Bastion gegen die russische Expansion auszubauen. (14) (Die armenische Republik entstand schließlich im Mai 1918 als Vorposten der Briten und Franzosen, bevor Teile Armeniens durch türkische und später britische Truppen okkupiert wurden.) Aus der Sicht der Jungtürken hatte der Vorwurf des "Verrats" gegen die um Autonomie bzw. Nationalstaatlichkeit ringende bürgerliche armenische Opposition daher durchaus ihre Berechtigung.
Nach der von Kriegsminister Enver verschuldeten katastrophalen Niederlage gegen die Russen bei Sarikamis im Januar 1915 mehrten sich die gesteuerten Meldungen, wonach sich die Armenier gegen die Türken "verschworen" hätten. Die verheerenden militärischen Niederlagen gegen Russland, tatsächlich das Resultat einer stümperhaften Kriegsführung, dienten dem Triumvirat Talaat, Enver und Cemal schließlich als Anlass, um mit den Armeniern kurzen Prozess zu machen. Vereinzelte Aktionen von Gegenwehr der bis aufs Blut gequälten armenischen Bevölkerung (so in Zeitun und Van im April bzw. Mai 1915) benutzte die Regierung als Vorwand für alle folgenden, längst beschlossenen Maßnahmen. Die wenigen, lokal beschränkten Versuche armenischer Selbstverteidigung fanden als türkische "Dolchstoßlegende" Eingang in die offizielle Geschichtsschreibung.
Von einer direkt dem Zentralkomitee der jungtürkischen Partei unterstellten "Sonderorganisation" zentral gesteuert, setzten im Frühjahr 1915 im gesamten Osmanischen Reich Deportationen ein. Als kriegsbedingte Umsiedlungen getarnt, dienten diese nur einem Zweck: der Ausrottung sämtlicher armenischer Bürger. Innerhalb von nur eineinhalb Jahren wurden 2 der 2,5 Millionen Armenier im Osmanischen Reich aus ihrer Heimat, aus ihren Häusern vertrieben und zu Fußmärschen gezwungen, die so gestaltet waren, dass die Menschen massenhaft an Hunger, Erschöpfung und an Seuchen starben, wenn sie nicht schon am Beginn des Weges massakriert wurden. Schwerverbrecher erhielten Haftverschonung und wurden von der "Sonderorganisation" zu Todesschwadronen (çetes) rekrutiert, um die Deportiertenkonvois und vor allem die armenischen Männer zu dezimieren. Vergewaltigungen und bestialische Morde waren an der Tagesordnung. Ziel des ganzen Unternehmens: Vernichtung des armenischen Volkes - "Verbannung ins Nichts" - wie es der damalige Innenminister und Kopf des regierenden Triumvirats, Talaat Pascha, in einem zeitgenössischen Telegramm formulierte.
Die Etappen der Vernichtung
Am 24./25. April 1915 wurden bei einer Großrazzia in der Hauptstadt Konstantinopel mehr als 600 armenische Intellektuelle festgenommen und ins Landesinnere deportiert, wo man sie in Gefängnissen zu Tode folterte, wenn sie nicht bereits auf dem Transport getötet wurden. Entwaffnet, in Arbeitsdienst-Bataillonen zusammengefasst und nach und nach beseitigt wurden auch die in der Osmanischen Armee dienenden armenischen Soldaten. In Zeitun beginnend, erfassten die Vernichtungsaktionen zunächst den Osten, dann den Westen und schließlich den Süden des Landes.
Ihr Ablauf folgte dabei immer demselben Muster: Ausschaltung der politischen Führer und intellektuellen Elite, Hausdurchsuchungen und die Aufforderung an alle Armenier, ihre Waffen abzuliefern. Darauf folgte der Deportationsbefehl. Die Männer trieb man zusammen und schlachtete sie außerhalb der Wohnorte ab. Die umliegenden Dörfer wurden dem Erdboden gleichgemacht. Frauen und Kinder wurden in bewachten Konvois deportiert - die schönsten Frauen und Mädchen an Muslime verkauft und versteigert. Raub, Mord und Vergewaltigung durch Kurden, Gendarmen und vor allem die Angehörigen von Mordbanden schutzlos preisgegeben, wurden die Deportierten über Nebenwege abseits der Hauptstraßen nach Mesopotamien getrieben. Wasser- und Nahrungsmangel taten das Übrige. Überlebende Zeugen berichteten, dass die Hauptrouten der Deportation von Leichen übersät waren.
Aleppo in Nordsyrien war ein zentraler Durchgangsort. Diejenigen, die nackt, zerlumpt und ausgehungert nach Monaten dort ankamen, glichen lebenden Leichen. Zusammen mit den per Bahn abtransportierten Deportierten der westlichen Provinzen wurden sie in außerhalb der Stadt gelegene Lager gepfercht, ehe man sie weitertrieb. Endstation war Deir-es-Zor in der mesopotamischen Wüste.
Anfang 1917 hatten die Jungtürken auf diese Weise den Großteil der armenischen Bevölkerung des Osmanischen Reiches ausgerottet. Nach Schätzungen der deutschen Botschaft in Konstantinopel vom Herbst 1916 fanden hierbei insgesamt 1,5 Millionen Armenier den Tod. Nur die Armenier von Smyrna und Konstantionpel entgingen der Deportation. Am 1. Januar 1917 annullierte die Osmanische Regierung den Berliner Vertrag und seinen Artikel 61, der keinerlei Bedeutung mehr habe, weil das armenische Volk nicht mehr existiere.
Die Folgen des Völkermords
Lange Zeit waren die von Aram Andonian 1920 veröffentlichten und 1921 im Berliner Tehlerjan-Prozess vorgelegten Telegramme Talaat Paschas (Zitat: "Das Recht der Armenier, auf dem Gebiet der Türkei zu leben und zu arbeiten, wird gänzlich abgeschafft") die einzigen Dokumente, die eine Planung des Völkermords an den Armeniern zu beweisen schienen. In den vergangenen Jahren brachten Untersuchungskommissionen weitere Geheim-Dokumente an den Tag. Daraus geht hervor, dass die Entscheidung zum Genozid vom Zentralkomitee der Ittihad getroffen wurde. Die Ittihad-Partei stellte die Kader für die Vernichtung, deren technische Durchführung der sogenannten Sonderganisation übertragen wurde, einer SS-artigen Formation, die über Mordkommandos gebot, denen Gendarmen der Provinzpolizei, aber auch Strafhäftlinge angehörten, die der Staat mit der Lizenz zum Töten vorzeitig aus der Haft entlassen hatte.
Verschiedene Dokumente mit Hinweisen auf frühzeitige organisatorische Vorbereitungen zum Völkermord und Zeugenaussagen deuten darauf hin, dass der Genozid an den Armeniern bereits vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs geplant war. Erst vor wenigen Jahren veröffentliche der US-armenische Wissenschaftler Vahakn N. Dadrian Dokumente aus den Unterlagen des britischen Foreign Office, die der Leiter der Geheimdienstabteilung II des Osmanischen Innenministeriums, Ahmed Essad, sichergestellt und den Briten übergeben hatte. Diese Dokumente enthalten einen 10-Punkte-Plan, den Organisationsplan für die Vernichtung der Armenier, dessen Entstehung von den Briten auf Dezember 1914 oder Januar 1915 datiert wurde.
Verantwortlich für diesen Plan zeichneten neben Innenminister Talaat unter anderem die ZK-Mitglieder Behaeddin Schakir und Mehmed Nazim. Verschiedene Indizien sprechen aber dafür, dass der Gedanke, die Armenier auszurotten, bereits früher gefasst wurde. War die Absicht zum Völkermord möglicherweise Anlass für den Kriegseintritt der Türkei an der Seite Deutschlands? Im Gegensatz zu Engländern und Franzosen, das wussten die Jungtürken, war den Deutschen an einem weiteren Zerfall des Osmanischen Reiches, dessen Erbe sie ja später anzutreten gedachten, nicht gelegen. Also würde der Kaiser, ein erklärter Freund der Osmanen und des Islam, ihnen in dieser Angelegenheit freie Hand lassen.
Was wussten die deutschen Verbündeten?
11. Januar 1916. Die militärischen Vorbereitungen für den deutschen Vorstoß an der Westfront laufen auf Hochtouren. Auch im Osten herrscht Krieg. Wichtigster Bündnispartner Deutschlands im Kampf gegen die Russen ist das Osmanische Reich. Deutsche Offiziere stehen zu Hunderten als Militärausbilder im türkischen Dienst. Als der damalige Abgeordnete der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (USPD) und spätere Mitbegründer der KPD, Karl Liebknecht, - er hatte als einziger SPD-Abgeordneter 1914 im Reichstag gegen die Bewilligung der Kriegskredite gestimmt - eine Kleine Anfrage an die Regierung stellt, macht sich Unruhe unter den Reichstagsabgeordneten breit. Gegenstand von Liebknechts Anfrage: der Bündnispartner Türkei. Genauer: die Verfolgung der armenischen Minderheit im Osmanischen Reich.
Ob der Reichsregierung bekannt sei, dass im verbündeten türkischen Reich die armenische Bevölkerung während des Krieges zu Hundertausenden von ihren Wohnsitzen vertrieben und niedergemacht worden sei, will Liebknecht wissen. Und was die Reichsregierung gegen eine Wiederholung ähnlicher Gräuel in der Türkei zu tun gedenke.
Dem Abgeordneten Liebknecht antwortet ein Vertreter der Reichsregierung aus dem Auswärtigen Amt: Dem Herrn Reichskanzler sei bekannt, dass die Pforte vor einiger Zeit, "durch aufrührerische Umtriebe unserer Gegner veranlasst, die armenische Bevölkerung bestimmter Gebietsteile des türkischen Reiches ausgesiedelt und ihr neue Wohnstätten angewiesen" habe. Nähere Einzelheiten hierzu könnten nicht mitgeteilt werden.
Mit dieser ausweichenden Antwort gibt sich Karl Liebknecht nicht zufrieden. Seine Bitte, den zuvor gestellten Antrag ergänzen zu dürfen, sorgt unter den Reichstagsabgeordneten für Heiterkeit. Als Liebknecht von bezeugten Massakern an den türkischen Armeniern spricht, entzieht ihm der Reichstagspräsident brüsk das Wort. Begründung: Dies sei eine neue Anfrage, die er nicht zulassen könne.
Es war das erste und letzte Mal, dass die Verfolgung der Armenier in der Türkei in den Jahren 1915 und 1916 im deutschen Reichstag zur Sprache kam.
Schon den damaligen europäischen Augenzeugen war klar, dass es sich hier um einen gezielten Völkermord, um eine flächendeckende Ausrottung der Armenier im Osmanischen Reich handelte. Die Berichte deutscher Diplomaten über diese Vorgänge sind heute noch im politischen Archiv des Auswärtigen Amtes nachzulesen. Kein anderer Staat besaß damals in der Türkei so zahlreiches diplomatisches Personal wie das Deutsche Reich. Fast in jeder Provinzhauptstadt gab es ein deutsches Konsulat.
Bereits im Juli 1915 erkannte deshalb der deutsche Botschafter, dass das, was die Türken beschönigend "Deportation" nannten, eine Tat war, die auf die Vernichtung - wie er es formulierte - der "armenischen Rasse" im Osmanischen Reich abzielte. Die Deutschen bzw. die deutsche Diplomatie wusste also besser als jeder andere Staat, was im Inneren der Türkei vor sich ging. Trotzdem schwieg das offizielle Deutschland. Wenn es überhaupt zu Protesten kam, dann kamen diese zu spät und fielen äußerst lau und zurückhaltend aus. Es gab weder wirtschaftliche Boykottmaßnahmen gegen die Türkei noch ernstzunehmende Drohgebärden. Und in Deutschland selbst erfuhr die Öffentlichkeit nichts von der Vernichtung der Armenier, da Militärzensur herrschte.
Warum sich das offizielle Deutschland so verhielt, ist relativ einfach zu beantworten. Bündnisinteresse ging vor Solidarität mit einem verfolgten Volk, "Realpolitik" im damaligen Verständnis Kaiserdeutschlands vor Menschenrechten oder Grundsätzen des internationalen Rechts wie der Haager Landkriegsordnung. Deutschlands herrschende Elite opferte skrupellos dem Bündnis mit den Jungtürken jegliche ethischen oder rechtlichen Grundsätze.
Die von dem evangelischen Theologen Johannes Lepsius 1919 veröffentlichten diplomatischen Akten belegen, dass der deutsche Botschafter Wangenheim durch seine Konsulate über den Ablauf der Deportationen bestens unterrichtet war. Kaiser Wilhelm II. freilich machte unmissverständlich deutlich, dass er das Schicksal der Armenier als notwendige und unvermeidliche Begleiterscheinung des Krieges ansah. Schließlich hatten deutsche Militärberater die Umsiedlung der armenischen Bevölkerung selbst empfohlen und gefordert, obwohl sie den tödlichen Charakter dieser Maßnahme erkannten. Für den Bau der Berlin-Bagdadbahn wurden Tausende armenischer Zwangsarbeiter eingesetzt und anschließend ermordet. Die in der Türkei stationierten deutschen Spitzenoffiziere stimmten mehrheitlich in die jungtürkischen Hasstiraden gegen die Armenier ein und hießen offen den Genozid gut. Vereinzelt beteiligten sich deutsche Offiziere sogar an den Massakern. (15)
Von seinem Parteigenossen Scheubner-Richter, seinerzeit deutscher Konsul zu Erzrum und von den Massakern aufrichtig entsetzt, dürfte Adolf Hitler vom Genozid an den Armeniern erfahren haben. Fasziniert hat den Diktator vor allem, dass kein Mensch mehr von den Opfern sprach, wie Hitler 1939, kurz vor dem Überfall auf Polen, bekannte. Auch von Juden und Kommunisten sollte eines Tages niemand mehr sprechen.
1919 machte ausgerechnet die feudal-klerikale Sultansregierung den Führern des "Komitees Einheit und Fortschritt" den Prozess. Für einige wenige Angeklagte endeten die Verfahren vor den militärischen Sondergerichtshöfen mit dem Todesurteil. Doch Talaat, Enver, Nazim, Schakir, Bedri und andere waren bereits Ende Oktober 1918 an Bord eines deutschen Schiffes nach Sewastopol geflüchtet. Im Dezember 1918 ließ sich Talaat mit Wissen deutscher Behörden in Berlin nieder.
Die jungtürkischen Führer wurden schließlich von armenischen Nationalisten bestraft. Talaats Mörder, der Student Soromon Tehlerjan, wurde 1920 in einem aufsehenerregenden Prozess vor dem Berliner Landgericht freigesprochen, - trotz der Versuche des preußischen Justizministeriums und des deutschen Auswärtigen Amtes, das Verfahren so zu steuern, dass lediglich persönliche und medizinische Aspekte der Tat, nicht aber deren politischer Hintergrund erörtert wurden.
Verfolgung unter Atatürk
Eine wahrhaft demokratische Lösung der nationalen Frage, die die berechtigten Interessen aller Nationalitäten berücksichtigen würde, war nach dem ersten Weltkrieg die politische Schlüsselfrage im ehemaligen Osmanischen Reich.
1918 proklamierte US-Präsident Wilson in seinen "Vierzehn Punkten" das Selbstbestimmungsrecht der Nationen. Im Vertrag von Sèvres (10. August 1920), der den Versailler Vertrag in Bezug auf das zerfallene Osmanische Reich ergänzte, wurde den Armeniern ein eigener Staat in den Grenzen des einstigen Großarmenien und den Kurden Autonomie zugesichert. Tatsächlich diente der Vertrag von Sèvres aber dazu, das Osmanische Reich unter die Siegermächte des Weltkriegs aufzuteilen und ihnen die Kontrolle über die ergiebigen Erdölquellen der Region zu sichern. Syrien und Kilikien wurden Frankreich, der Irak und Palästina Großbritannien zugesprochen. Die Türkei wurde auf das anatolische Kernland reduziert. Sie musste Ostthrazien und die ägäischen Inseln an Griechenland, die Dodekanes und Rhodos an Italien abtreten. Die Meerengen wurden internationalisiert. Aus der Sicht der Großmächte diente auch der armenische Staat als Gegengewicht zur Türkei. Durch die Aufspaltung der Region in ohnmächtige Kleinstaaten, die je nach Bedarf gegeneinander aufgehetzt werden konnten, sollte ihr Einfluss gesichert werden.
Als Reaktion auf den Vertrag von Sèvres erhielt die türkische Nationalbewegung einen mächtigen Aufschwung. Die Macht ging nun endgültig von der Sultansregierung in Istanbul auf die Nationalbewegung in Ankara über, die seit 1919 unter der Führung von General Mustafa Kemal ("Atatürk"), einem Mitglied des "Komitees für Einheit und Fortschritt", entstanden war. In einer zweijährigen militärischen Kampagne revidierte Kemal den Vertrag von Sèvres. Der armenische Staat wurde überrannt, die Griechen vom türkischen Festland vertrieben. Im Frieden von Lausanne (24. Juli 1923) wurde das Ergebnis international anerkannt. Von einem armenischen Staat war darin nicht mehr die Rede.
Als Mustafa Kemal sich 1919 anschickte, die Türkei zu einem laizistischen Staat nach europäischem Muster aufzubauen, leugnete er den Genozid an den Armeniern nicht und nannte auch die Verantwortlichen beim Namen. Doch als Vertreter der türkischen Militärkaste und der entstehenden Bourgeoisie erweis er sich als unfähig, das Problem der nationalen Minderheiten auf demokratische Weise zu lösen. Seine Zusammenarbeit mit den Mördern von Armeniern und kleinasiatischen Griechen, die unter seiner Regierung im Jahr 1921 nicht nur amnestiert wurden, sondern von denen viele in Schlüsselstellungen in Staat und Militär aufsteigen konnten, wirft einen langen Schatten auf die Verdienste des türkischen Staatsgründers. Kemal war es auch, der die Sondergerichtshöfe auflöste und die Verfahren gegen die Unionisten beendete.
Die personelle und organisatorische Kontinuität der Vernichtungsmaschinerie der Jungtürken, bzw. ihrer Akteure in Kemals Befreiungsarmee, bildet mit die größte historische Hypothek der heutigen Republik Türkei. Mit der Abschlachtung von Zehntausenden Armeniern im Transkaukasus, in Kilikien, in Smyrna und der Provinz Sivas vollendete Kemal nach der türkischen Okkupation der erst am 28. Mai 1918 proklamierten Armenischen Republik das Vernichtungswerk der Jungtürken. Im Vertrag von Kars vom 13. Oktober 1921 erzwang der türkische Staatsgründer von Sowjetrussland die Anerkennung seiner Eroberungen von armenischen Gebieten.
Im Kampf gegen die national-revolutionäre Regierung von Kemal, in dem die Kommandos der Hintschaken eine führende Rolle spielten (16), handelten die armenischen Nationalisten allerdings keineswegs nur in Selbstverteidigung, sondern auch direkt als imperialistische Hilfstruppe. So kämpfte eine Armenische Legion an der Seite der Briten und Franzosen in Palästina und Syrien. Nach der Schlacht von Marash, einem der ersten militärischen Erfolge der Kemalisten, wurden sie von den Franzosen im Stich gelassen und von der türkischen Armee massakriert. (17)
Sowjetarmenien
Mit der russischen Oktoberrevolution von 1917 war ein völlig neuer Faktor in die armenischen Ereignisse eingetreten. Unmittelbar nach ihrer Machtübernahme hatten die Bolschewiki das Selbstbestimmungsrecht der Nationen im ehemaligen Zarenreich proklamiert und im Januar 1918 mit dem Rückzug der Truppen aus russisch Armenien und dem Aufbau einer armenischen Selbstverteidigungsmiliz begonnen.
Im April desselben Jahres erklärten sich Armenien, Georgien und Aserbaidschan für selbständig und schlossen sich zu einer "Unabhängigen Republik Transkaukasien" zusammen. Diese hielt sich nur vier Wochen, da sich die bürgerlichen Parteien an ihrer Spitze nicht auf eine gemeinsame außenpolitische Haltung einigen konnten. Aserbaidschan, dessen Bevölkerung mit der türkischen ethnisch verwandt ist, weigerte sich, gegen die Türkei zu kämpfen, und Georgien hoffte auf Deutschland als Schutzmacht. So blieb Armenien im Kampf mit der Türkei sich selbst überlassen. Auch das bolschewistische Russland, das im Frieden von Brest-Litowsk bedeutende Zugeständnisse an die mit Deutschland verbündete Türkei hatte machen müssen, konnte es nicht unterstützen. Bis zum Zusammenbruch der Mittelmächte im November 1918 lag die Macht in Transkaukasien faktisch bei den deutschen und türkischen Okkupationstruppen.
Es würde zu weit führen, im Rahmen dieses Artikels die komplizierten und verwickelten Ereignisse der Jahre 1918 bis 1921 in Transkaukasien nachzuvollziehen. Regierungen, innen- und außenpolitische Bündnisse und Grenzverlauf wechselten oft im Monats- oder Wochenrhythmus. In der Region prallten nicht nur türkische und britische Interessen aufeinander, sie wurde auch zum Schauplatz des Kampfs zwischen Roten und Weißen im russischen Bürgerkrieg. Dies wird in vielen historischen Darstellungen übersehen. Je nachdem durch welche nationalistische Brille der Autor das Geschehen betrachtet, greift er sich einzelne Ereignisse heraus, schreibt von " den Armeniern", " den Aserbaidschanern" usw. und übersieht dabei völlig, dass die Front oft mitten durch die einzelnen Nationalitäten hindurchlief.
So übernahm in Baku, dass aufgrund seiner Ölindustrie über eine starke, aus mehreren Nationalitäten zusammengesetzte Arbeiterklasse verfügte, bereits 1918 eine Sowjetregierung die Macht. Sie wurde durch türkische Truppen gestürzt, denen es dank der Haltung der aserbaidschanischen und georgischen bürgerlichen Kräfte gelang, die Stadt zu erobern, wo sie prompt ein Massaker an armenischen Arbeitern anrichteten.
Als sich im April 1920 der Sieg der Bolschewiki im Bürgerkrieg abzeichnete, übernahm in Baku erneut eine Sowjetregierung die Macht und dehnte sie auf ganz Aserbaidschan aus. Die Folge war ein mehrmonatiger Krieg mit dem von den Daschnaken regierten Armenien um die Region Karabach. Auch zwischen dem menschewistischen Georgien und dem daschnakischen Armenien war es im Herbst 1918 zu einem Grenzkrieg gekommen, der erst auf britische Intervention hin beigelegt wurde.
Die Unfähigkeit der bürgerlichen Parteien, die Region von kolonialer Abhängigkeit und Unterdrückung zu befreien, wurde so immer deutlicher. Als die türkische Armee 1920 bis vor die Tore Jerewans vorrückte, traten die regierenden Daschnaken am 2. Dezember schließlich die Macht freiwillig an eine Sowjetregierung ab. Aber nur wenige Stunden später unerzeichnete eine daschnakische Delegation, die von derselben Regierung zu Friedensverhandlungen nach Alexandropol entsandt worden war, einen Vertrag mit der Türkei, der Armenien praktisch zu einer türkischen Provinz machen sollte. Sie zog eine Unterwerfung unter den Erzfeind Türkei einer Sowjetregierung vor.
Die Regierung in Moskau konnte allerdings die Augen nicht vor der Tatsache verschließen, dass die türkischen Nationalisten gegen dieselben imperialistischen Mächte kämpften, die auch die Existenz der Sowjetunion bedrohten. Deshalb suchte sie eine Annäherung mit der Türkei, während sie gleichzeitig am Selbstbestimmungsrecht der Armenier festhielt. Im Sommer 1920 kamen die Verhandlungen zwischen Moskau und Ankara wegen der Armenienfrage wochenlang ins Stocken. "Bezüglich der Armenien-Frage gab es in Ankara und Moskau keine Übereinstimmung. [Der sowjetische Außenminister] Tschitscherin verlangte in Armenien, in Kurdistan, Lasien und Ostthrazien Volksentscheide, an denen auch die aus ihrer Heimat vertriebenen Bewohner teilnehmen sollten, beharrte also auf dem Selbstbestimmungsrecht der Völker." (18)
Die Lage änderte sich, als die Rote Armee an der Polenfront in die Defensive geriet. Nun musste sie an der Ostfront zu einer Übereinkunft mit der Türkei kommen. So kam es zu den Verträgen von Moskau (16. März 1921) und Kars (13. Oktober 1921), in denen die Moskauer Regierung die Türkei in den Grenzen von 1878 anerkannte.
Die bolschewistische Nationalitätenpolitik
Die bolschewistische Nationalitätenpolitik unterschied sich grundlegend von der bürgerlichen Forderung nach Selbstbestimmung und ermöglichte tatsächlich eine demokratische Lösung des verzwickten Nationalitätenproblems. Lenin verteidigte das Selbstbestimmungsrecht, ohne deshalb zu einem aktiven Verfechter einer Lostrennung zu werden. Er vertrat es gewissermaßen als negative Forderung. Selbstbestimmung bedeutete, dass ein Zusammenschluss nur auf freiwilliger Basis und nicht durch Zwang stattfinden durfte, keineswegs aber die Ablehnung des Zusammenschlusses von Nationen, die auf sich gestellt ökonomisch nicht lebensfähig waren.
Der Historiker E.H. Carr, selbst kein Marxist, betont in seiner "Geschichte der russischen Revolution" die epochale Bedeutung der bolschewistischen Nationalitätenpolitik:
"Die bolschewistische Politik der nationalen Selbstbestimmung hatte sich von der Anerkennung des Rechts auf Lostrennung in einer bürgerlichen Gesellschaft entfaltet bis hin zur Anerkennung der Gleichheit der Nationen, zur Aufhebung der Ausbeutung einer Nation durch die andere in einer sozialistischen Gemeinschaft der Nationen. Das Bindeglied, das diese Entwicklung bis zur Vollendung führte, war Lenins Postulat eines freiwilligen Zusammenschlusses. Dadurch wurde die Union zum Ausdruck, und nicht zur Fessel des Willens der Nationen zur Selbstbestimmung. Das Postulat beruhte auf Lenins fester persönlicher Überzeugung, dass im Sozialismus das Element des Zwanges aus der Regierung verschwinden und durch die freiwillige Fügung in administrative Regelungen abgelöst werden würde. [...]
Zugunsten dieses Standpunkts könnte man anführen, dass die bürgerliche Theorie der Selbstbestimmung bereits 1919 in eine Sackgasse geraten war, aus der es kein Entrinnen gab [...] Die kapitalistische Ordnung in der Form, die eine Arbeitsteilung zwischen den fortgeschrittenen oder industrialisierten Nationen und den rückständigen oder kolonialen Nationen hervorgebracht hatte, ließ eine wirkliche Gleichheit zwischen den Nationen unerreichbar werden. Die Idee, die Nationen auf einer wirklich, nicht nur formal gleichberechtigten Ebene in einer sozialistischen Ordnung wieder zusammenzuschließen, war ein kühner und geistvoller Versuch, den toten Punkt zu überwinden. Die Bedeutung dieser Politik lag in den Maßnahmen, die getroffen wurden, um durch die Abschaffung des Unterschieds zwischen Industrie- und Agrarnationen Autorität zu gewinnen. Das sollte nicht unterschätzt werden." (19)
Nach dem Ende der bewaffneten Auseinandersetzungen erlebte Sowjetarmenien in den zwanziger Jahren eine kulturelle Blütezeit. Diese Tatsache wird selbst von der Historikerin Tessa Hofmann anerkannt, deren Darstellung ansonsten stark durch die Sichtweise der armenischen Nationalisten gefärbt ist.
Sie schreibt, dass "die sowjetarmenische Führung unter der Ministerpräsidentschaft Mjasnikjans seit 1921 damit begonnen (hatte), das Land zum geistigen und kulturellen armenischen Zentrum auf- und auszubauen. Der materiellen Not zum Trotz entstanden Verlagshäuser, Theater, eine Oper (1933), ein landesweites Bibliotheksnetz, Museen, Einrichtungen der Volksbildung und Forschungsstätten wie das Institut der Künste und Wissenschaften Armeniens (1925), das 1943 zur Akademie der Wissenschaften erhoben wurde. Um die Jahrhundertwende noch ein Provinznest mit 30.000 Einwohnern, wurde die Hauptstadt Jerewan von 1926 bis zum Kriegsbeginn 1941 nach Plänen des bekannten Architekten Alexander Tamanjan völlig neu gestaltet, mit ringförmigen Umgehungsstraßen, breiten, radial auf runde Zentralplätze führenden Boulevards, sowie harmonischen Wohn- und Repräsentationsbauten im Stil armenischer Neoklassik. Die enthusiastische Aufbruchsstimmung der 1920er Jahre war so groß, dass zahlreiche Intellektuelle der Diaspora nach Armenien übersiedelten, wo Festgehälter sowie Renten für anerkannte Autoren und Künstler einen zusätzlichen Anreiz boten. Wenn auch durch geschichtliche Erfahrung zum Skeptizismus und ausgeprägten Individualismus neigend und somit alles andere als für die Sowjetideologie prädestiniert, begannen viele Armenier, an die Chance einer kulturellen Renaissance auf armenischem Boden zu glauben." (20)
Die Auswirkungen des Stalinismus
Wenn von dieser Stimmung heute nichts mehr zu spüren ist und die Armenienfrage wieder im Raum steht, so ist dies nicht der bolschewistischen Nationalitätenpolitik, sondern deren völliger Perversion unter der Herrschaft Stalins zuzuschreiben. Sicher haben territoriale Konflikte - wie die Auseinandersetzungen um Karabach und Nachitschewan - Wurzeln, die bis Anfang der zwanziger Jahre zurückreichen. Aber dies allein kann nicht erklären, weshalb der Streit um diese Gebiete nach der Auflösung der Sowjetunion wieder zu blutigen Konflikten ausartete.
Beide Gebiete waren während des Bürgerkriegs heftig umkämpft. Im Sommer 1920 wurden sie von der Roten Armee besetzt, was sowohl von der Regierung in Jerewan als auch von der lokalen Bevölkerung, die darin einen Schutz gegen türkische Massaker erblickten, begrüßt wurde. 1921 beschloss das Büro des Transkaukasischen Komitees der Sowjetunion unter Josef Stalin, sie Aserbaidschan zu unterstellen. Dies, obwohl Nachitschewan ein (allerdings nicht mehrheitlich armenisch besiedeltes) vormals armenisches Gebiet war und Karabach fast ausschließlich von Armeniern bewohnt wurde. Karabach, das auch der Volkskommissar des Äußeren, Georgij Tschitscherin im April 1920 ein "uraltes armenisches Gebiet" nannte, wurde nur in seinem Zentrum zu einem Autonomen Gebiet erklärt. Es wurde so zu einer armenischen Insel innerhalb Aserbeidschans, die keine gemeinsame Grenze mit Sowjetarmenien besaß.
Dieser Beschluss führte schon damals, auch innerhalb bolschewistischer Kreise, zu erheblichen Spannungen. Druck von Seiten der Türkei hatte bei seinem Zustandekommen eine Rolle gespielt. Nicht unerheblich dürfte aber auch gewesen sein, dass die transkaukasischen Angelegenheiten in den Händen Stalins lagen, mit dem Lenin wegen seiner mangelnden Sensibilität gegenüber den unterdrückten Nationen damals in heftigen Konflikt geriet und schließlich offen brach.
Ein großer Teil von Lenins Ende 1922 verfasstem "Testament" ist dieser Frage gewidmet. Lenin wirft Stalin darin großrussische Arroganz und administratives Verhalten vor und betont die Notwendigkeit, "durch sein Verhalten oder durch seine Zugeständnisse gegenüber dem Nichtrussen so oder anders das Misstrauen, den Argwohn zu beseitigen, jene Kränkungen aufzuwiegen, die ihm in der geschichtlichen Vergangenheit von der Regierung der Großmacht'nation zugefügt worden sind." (21)
Hätte die Sowjetunion an Lenins Politik festgehalten, dann wären die damals entstandenen Spannungen nach und nach in den Hintergrund getreten. Fragen, wie die administrative Zugehörigkeit Karabachs oder Nachitschewans hätten mit der Überwindung der nationalen und sozialen Gegensätze kaum noch eine Rolle gespielt. Die Usurpation der Sowjetmacht durch die Stalinsche Bürokratie nach Lenins Tod und deren Rückkehr zu totalitären, großrussischen Herrschaftsmethoden hatte die entgegengesetzte Wirkung: Die Konflikte schwelten unter der Oberfläche weiter, um nach der Auflösung der Sowjetunion offen auszubrechen.
Ende 1991 bis Mai 1994 entbrannte ein blutiger Krieg zwischen Aserbaidschan und den nominell 120.000 Armeniern Karabachs, der auf beiden Seiten ethnisch bedingte Ausschreitungen zur Folge hatte. In Aserbaidschan hatte es bereits 1988 anti-armenische Pogrome gegeben. Umgekehrt flohen im Verlauf des Krieges aus Karabach und dem Korridor zu Armenien bis zu eine Million Aseris. Seither existiert Karabach als eigenständiger armenischer Staat, der bisher allerdings international nicht anerkannt wurde. Aserbeidschan hat über die Republik Armenien eine totale Energie- und Transportblockade verhängt, der sich die Türkei sofort anschloss, und unter der das verarmte und ausgeblutete Land bis heute leidet.
Aus der Tragödie des armenischen Volkes - von den Pogromen Ende des 19. bis zum Karabach-Konflikt Ende des 20. Jahrhunderts - ergibt sich als zentrale Lehre: die Unmöglichkeit, die nationale Frage auf bürgerlicher Grundlage zu lösen. Eine wirkliche Lösung der nationalen Frage im Transkauksaus kann nur auf demokratischem Weg und auf der Grundlage einer völkerübergreifenden Föderation geschehen. Eine solche Lösung erfordert die Mobilisierung breiter Bevölkerungsschichten gegen die bürgerlichen Nationalisten jeder Couleur.
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Anmerkungen:
1) Sigrid Averesch: Armenien. Ein Gottesdienst, eine Lüge und die türkischen Medien.
2) Die Süddeutsche Zeitung meldete am 20. April , dass der Petitionsausschuss einen entsprechenden Antrag an den Bundestag weitergeleitet hat. Vgl. auch Berliner Zeitung, 14. April 2001.
3) Heute im Bundestag, Pressedienst des deutschen Bundestags, 11. Mai 2001.
4) Trotzki, Die Zersetzung der Türkei und die armenische Frage, in Leo Trotzki, Die Balkankriege 1912-13S, S. 267-277, Zitat S.275.
5) Laut Udo Steinbach, Die Türkei im 20. Jahrhundert, S. 121 verloren allein während des Ersten Weltkriegs in Anatolien 2,5 Millionen Muslime, 600.000 bis 800.000 Armenier und 300.000 Griechen das Leben. Die Bevölkerung sank um 20 Prozent.
6) Ausführlich dargestellt ist dies in Leo Trotzki, Die Balkankriege 1912-13, Anmerkung 92, S. 548 ff. Dieses Buch ist überhaupt eine wahre Fundgrube zum Verständnis der betreffenden Fragen. Ein Artikel, "Die Zersetzung der Türkei und die armenische Frage" (S. 267), befasst sich direkt mit dem hier behandelten Thema. Auch die umfangreichen Anmerkungen, die von engen Mitarbeitern und Gesinnungsfreunden Trotzkis erstellt wurden, enthalten zahlreiche wertvolle Hinweise.
7) "Die neue Türkei", in Die Balkankriege 1912-13, S. 28
8) Lenin, Staat und Revolution, Lenin/Werke, Bd. 25, 393-337, Zitat 429.
9) "Die neue Türkei", in Die Balkankriege 1912-13, S. 29
10) ebd. S. 30
11) ebd.
12) "Die neue Türkei", in Die Balkankriege 1912-13, S. 30
13) ebd. S. 30-31
14) Vergl. dazu Die Balkankriege 1912-13,Anmerkung 92, S. 548 ff.
15) Eine aktive Mitwirkung wird von verschiedenen Quellen bezeugt: "Die Deportationspläne für die Armenier stammten von Colmar Freiherr von der Goltz, der seit 1883 als Militärausbilder und Organisator im Osmanischen Reich tätig war, wo er als türkischer Feldmarschall nur,Goltz-Pascha‘ hieß. Er mag sich auf den deutschen Publizisten Paul Rohrbach gestützt haben, der schon 1913 eine Deportation der Armenier vorgeschlagen hatte, um die sogenannte armenische Frage zu lösen." 1913 sollen unter General Liman von Sanders etwa 800 deutsche Offiziere nach Istanbul gekommen sein, um die Türkei militärisch aufzurüsten. Von diesen sollen "einige" an der "Planung und Durchführung" der "Deportationen" teilgenommen haben. General Fritz Bronsart von Schellendorf, Chef des Generalstabs des osmanischen Feldheeres in Istanbul, schrieb Anfang 1919: "Der Armenier ist wie der Jude, außerhalb seiner Heimat ein Parasit, der die Gesundheit des anderen Landes, in dem er sich niedergelassen hat, aufsaugt. Daher kommt auch der Hass, der sich in mittelalterlicher Weise gegen sie als unerwünschtes Volk entladen hatte und zu ihrer Ermordung führte." Das Auswärtige Amt ließ 1921 auf dem Grab des ermordeten Talaat Pascha einen Kranz mit der Widmung niederlegen: "Einem großen Staatsmann und treuen Freund". (Fikret Aslan, Kemal Bozy u.a., Graue Wölfe heulen wieder, Münster 1997)
16) Vergl. dazu u.a. Leo Trotzki, Die Balkankriege 1912-13, Essen 1996, Anmerkung 15, S. 506 ff.
17) Baku: Congress of the Peoples of the East, New Park Publications London 1977, Fußnote 31, S. 191 f.
18) Yves Ternon, Tabu Armenien, Verlag Ullstein Franfurt/Berlin 1981, S. 234
19) Das Zitat stammt aus der mehrbändigen englischsprachigen Ausgabe, hier zitiert nach Vierte Internationale, Jg.19, Nr 1, S. 131.
20) Tessa Hofmann, Annäherung an Armenien, C.H.Becksche Verlagsbuchhandlung, München 1997, S. 122
21) Lenin Werke Band 36, Dietz Verlag Berlin 1962, S. 593
Siehe auch:
Türkische Wirtschaftskrise entwickelt sich zur Staatskrise (17. April 2001)
PKK bietet IWF-Wirtschaftsminister Dervis und Militär ihre Dienste an ( 11. Mai 2001)